Lupe

Lassen Sie sich von Micaela Kapitzky in die Geschichte dieses Meisterwerks von Emil Nolde entführen.

Emil Nolde
„Meer (I)“. 1947. Öl auf Leinwand. 67,5 × 88 cm. EUR 1.000.000–1.500.000

Los 31, Auktion Ausgewählte Werke am 2. Dezember, 18 Uhr

Das Meer ist zu allen Zeiten ein wichtiges Thema für Emil Nolde und findet sich außerordentlich vielgestaltig in seinem Werk. Seine Bilder haben ihren Ursprung in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Kräften der Natur. Dort hat er seine Motive gesehen und sie erlebt, sie künstlerisch verarbeitet und auf Papier oder Leinwand gesteigert zum Ausdruck gebracht. Er schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Alles Ur- und Urwesenhafte fesselte immer wieder meine Sinne. Das große, tosende Meer ist noch im Urzustand, der Wind, die Sonne, ja der Sternenhimmel wohl fast auch noch so, wie er vor fünfzigtausend Jahren war.“

Emil Nolde sehnt sich danach, in seiner Kunst Mensch und Natur zu einer Einheit zusammenzuführen. Dies gelingt ihm durch die größtmögliche Annäherung an die elementaren Naturgewalten, die er tief in sein Inneres aufnimmt. An seiner Wahrnehmung will Emil Nolde die Menschen teilhaben lassen, dies ist ein Grundzug seiner Kunst. So ist es auch in diesem Fall. Er setzt den Betrachter des Gemäldes „Meer (I)“ einem Naturschauspiel der Kräfte des Meeres und der Wolken aus, dem man sich nicht entziehen kann. Beiden Urgewalten wird auf der Bildfläche fast der gleiche Raum eingeräumt, der Horizont ist nahezu mittig angelegt, Küste, Boote oder Menschen sind nicht zu sehen.

In dem Bild „Meer I“ zeigt die See ein Farbenspiel verschiedener Blautöne von Hellblau über Türkisgrün bis zu Preußisch Blau. Weiße Schaumkronen, insbesondere die Gischt der zwei aufeinanderprallenden Wogen, der tiefblauen, von links heranrollenden und der mittleren lichten, verstärken seine untergründige Kraft. Emil Nolde fokussiert die Darstellung auf die dramatische Begegnung der mächtigen Wellenberge mit dem leuchtend rot brennenden Himmel, der, von einem dunklen Wolkenband gerahmt, eine eigene geheimnisvolle, geradezu magische Farblandschaft bildet. Natürliches und Übernatürliches verbinden sich in diesem Gemälde.

Der Kunsthistoriker Max Sauerlandt analysiert 1921 in der ersten großen Monografie über den Künstler: „Nolde kennt das Meer, wie es vor ihm noch kein Künstler gekannt hat. Er sieht es nicht vom Strande oder vom Schiffe aus, er sieht es so, wie es in sich selbst lebt, losgelöst aus jedem Bezug auf den Menschen, als das ewig regsame, ewig wechselvolle, ganz in sich selbst sich auslebende, in sich selbst sich erschöpfende göttliche Urwesen, das bis heute noch die ungebändigte Freiheit des ersten Schöpfungstages sich bewahrt hat.“

1940 hatte Emil Nolde sein vorerst letztes Meerbild geschaffen, und griff das Thema erst sechs Jahre später wieder auf. Im Jahr 1947 malt er vier Seestücke, darunter „Meer (I)“, das auf ein Aquarell aus der Folge der „Ungemalten Bilder“ (s. Abb.) zurückgeht, die ab den frühen 1930er-Jahren entstanden. In der Umsetzung in Öl intensiviert er deutlich die Farbgewalt des Himmels. Er erreicht in den späten Meergemälden eine neue Qualität. Trotz ihres mächtigen Ausdrucks wirken die Meere nicht mehr aufgepeitscht oder gar beängstigend. Im Spätwerk erweitert und vertieft Emil Nolde sein vorangegangenes Schaffen. Eigentliches Ausdrucksmittel bleibt die Farbe selbst, die beeindruckende Farb- und Lichtregie vervollkommnet er. Der künstlerische Ausdruck ist weicher und stiller, gleichzeitig emotionaler und tiefgründiger.

Das Gemälde „Meer (I)“ entsteht in dem Jahr, in dem Emil Nolde seinen 80. Geburtstag begeht. Vorangegangen war eine Zeit tiefer Trauer, denn seine Frau Ada war am 2. November 1946 nach 44 Ehejahren trotz ihrer schon lange angegriffenen Gesundheit unerwartet gestorben. 1947 wird das künstlerische Lebenswerk des alten Meisters des deutschen Expressionismus in einer Reihe von Ausstellungen mit großer öffentlicher Wirksamkeit gewürdigt. Und im selben Jahr sollte es auch in seinem Leben eine unerwartete Wendung geben: Er trifft die inzwischen 25-jährige Jolanthe Erdmann wieder, Tochter des befreundeten Komponisten und Pianisten Eduard Erdmann, die er seit Kindheitstagen kennt. Nolde berührt diese Begegnung in seinem tiefsten Inneren. Er verliebt sich in die junge Frau und wirbt um sie. Sie zögert zunächst, denn der Altersunterschied beträgt 55 Jahre. Schließlich einigen sie sich darauf, dass sie ihn für eine längere Zeit in Seebüll besucht, um sich besser kennenzulernen – das bleibt nicht ohne Folgen: Am 22. Februar 1948 heiraten beide, selbst für den engen Freundeskreis überraschend.

Jolanthe Nolde gibt dem Maler ein Gefühl des Lebensglücks zurück und ermutigt ihn in den folgenden Jahren einfühlsam, weiter künstlerisch zu arbeiten. Aufmerksam beobachtet sie ihn: „Die Gegenstände bei Nolde sind oft dazu da, um den Farben und Formen eine Sinngebung werden zu lassen, damit sie nicht willkürlich werden. Es gibt Meerbilder, bei denen alles fast gegenstandslos wird, ein Farbenklingen. Und doch ist es halt gut zu empfinden: das ist Meer; tatsächlich vertieft das die Klangfülle des Bildes. Nicht nur Farben und Formen, sondern dazu noch Meer. Eine Gefühlsebene mehr klingt dadurch in uns an.“

Die besondere Wertschätzung Emil Noldes für das Gemälde „Meer (I)“ äußert sich darin, dass er dieses Gemälde im Jahr 1949 als Weihnachtsgeschenk für seine Frau Jolanthe auswählte. Auf der Rückseite des Keilrahmens hielt er neben dem Werktitel und seinem Namen handschriftlich ihren fest: „Jolanthe.“. Sie weiß um die Bedeutung dieses Geschenkes und spürt der Anziehungskraft ihres Bildes nach: „Vielleicht hat die [rote] Grundierung ihn dazu inspiriert, bei meinem Bild diesen merkwürdig schönen Zusammenklang von grünblauem Wasser zu einem unnaturalistisch roten Himmel zu komponieren. Vielleicht hatte er erst das Wasser gemalt, so daß er dann die Kontrastwirkung zum Rot empfand in ihrer Schönheit.“

Am 13. April 1956 stirbt Emil Nolde im Alter von 88 Jahren und wird an der Seite seiner Frau Ada in der Gruft auf Seebüll beigesetzt. Ein halbes Jahr nach seinem Tod verlässt Jolanthe Nolde das Anwesen, um die Errichtung der 1946 von Ada und Emil Nolde verfügten Stiftung und die damit verbundene Öffnung des Hauses Seebüll als Museum möglich zu machen. Jolanthe Nolde bekam von ihrem Mann testamentarisch unter anderem 20 Gemälde, 20 Aquarelle und 20 Druckgrafiken zugesprochen. Mit Verkäufen von Werken sollte sie, die weder über eine abgeschlossene Ausbildung noch über Studium oder Beruf verfügte, ihren Lebensunterhalt finanzieren. Von dem Ölbild „Meer (I)“ hat sich Jolanthe Nolde bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 nicht getrennt.