Lupe

Entdecken Sie mit Anna Ahrens dieses Meisterwerk der deutschen Romantik.

Ernst Ferdinand Oehme
„Tiroler Landschaft mit Burg Naudersberg“. 1847. Öl auf Leinwand. 107 × 154,5 cm. EUR 100.000–150.000

Los 14, Auktion Ausgewählte Werke am 2. Dezember, 18 Uhr

Verwirrspiel der Blicke

Als eine der „gelungensten Arbeiten“ Oehmes bezeichnete Friedrich Rudolf Meyer (1847, S. 204) die „Tiroler Landschaft mit Burg Naudersberg“, als er von der Dresdner Akademieausstellung 1847 berichtete. Tatsächlich tritt mit dem Gemälde, das bereits im Entstehungsjahr durch den Leipziger Kunstverein angekauft wurde, eines der bedeutendsten Werke des Landschaftsmalers wieder an die Öffentlichkeit. Die Präzision der Naturdarstellung und die anspruchsvolle Komposition des Bildes verraten Oehmes Ausbildung bei Johan Christian Dahl und Caspar David Friedrich. Das Alpenpanorama und das zentral im Bild dargestellte Schloss Naudersberg zeugen von ertragreichen Studien im Hochgebirge, die der junge Maler im Sommer 1825 auf seiner Rückreise aus Italien in Tirol und in der Schweiz hatte anfertigen können. Und Oehmes spätere eigenständige Weiterentwicklung, bei der er sich auch für Anregungen der aufstrebenden Düsseldorfer Malerschule offen zeigte, äußert sich sowohl im harmonischen Kolorit als auch in der Nutzung der gesamten Bildfläche für die Darstellung von signifikanten Details.

Nicht zuletzt mit Gebirgslandschaften hatte sich Oehme ab den späten 1820er-Jahren in Dresden einen Namen gemacht. Zu den Zeichnungen, die er vor Ort in den Alpen angefertigt hatte, zählt eine am 11. August 1825 entstandene, aquarellierte Studie von Schloss Naudersberg (Köln, Wallraf-Richartz-Museum). Dieses Aquarell zog Oehme 1828 als Vorlage heran, um für Johann Gottlob von Quandt ein Bild zu malen, das sich heute in der Hamburger Kunsthalle befindet. Während er dabei den Vorgaben des Aquarells recht treu folgte, nahm er in seinem Gemälde von 1847 zahlreiche Änderungen vor, die der Burg ein dramatischeres Aussehen verliehen.

Vor allem aber stellte Oehme dem Schloss Naudersberg zahlreiche weitere Motive zur Seite: Neben dem Bergpanorama ziehen nun eine Kapelle, der wilde Wasserlauf des Stillebachs sowie ein Wald den Blick auf sich. Dass bei näherer Betrachtung zudem Staffagefiguren hervortreten und das Leben in Tirol zu illustrieren scheinen, bestätigt zunächst unser klischeehaftes Bild von der anekdotischen Malerei der Spätromantik. Doch tritt in genau diesen Figuren eine eigene Qualität von Oehmes Bild zutage. Neben den beiden jungen Frauen in der Bildmitte am Fuße des Schlosses ziehen drei junge Männer links am Waldrand die Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Gesten lenken den Blick zu drei weiteren Figuren, die sich miniaturenhaft am Ende des Waldwegs abzeichnen. Hat der Betrachter erst einmal diese Figuren erblickt, so wird das geschärfte Auge bald auch auf den Hirten in der rechten Bildhälfte treffen. Und selbst der weit entfernte Zug von mindestens neun Figuren, der oberhalb der Biegung des Baches schwach erkennbar ist, kann dann – wie bereits die eingangs erwähnte Würdigung des Bildes durch Friedrich Rudolph Meyer vorführt – ins Auge fallen.

Je mehr sich der Betrachter den Figuren zuwendet, desto unklarer wird, wie deren Konstellation zu verstehen ist. Die zwei Mädchen im Bildzentrum versu- chen mit den drei jungen Männern vorne links Kontakt aufzunehmen. Es bleibt aber offen, ob deren Augenmerk ausschließlich den zwei Frauen und ihrem Begleiter im Waldinneren gilt oder ob zumindest der Mann mit der roten Weste auf die jungen Frauen am Fuße des Schlosses reagiert. Nicht zuletzt aufgrund dieser Unbestimmtheit bietet Oehmes Bild Freiraum, um verschiedene Geschichten mit offenem Ausgang zu imaginieren.

Dieser Freiraum beschränkt sich nicht allein auf die Bilderzählung, sondern macht sich bereits bei der Blickführung geltend: Oehme trägt dafür Sorge, dass wir jeden Winkel des Bildes bewusst in den Blick nehmen, lässt uns aber bei der Wahl der Wege durch das Bild alle Freiheiten. Da die Betrachtung nicht auf ein klar vorherbestimmtes Ziel zuläuft, erscheint ein seltsam auffälliges Detailmotiv wie ein gewitzter Kommentar zu diesem konzentrierten, aber ziellosen Schauen: Die Zielscheibe, die von den drei jungen Männern ins Bild getragen wurde, liegt scheinbar unbeachtet am Wegesrand.

Johannes Grave