George Grosz, Zeichnungen und Aquarelle. Berlin, Verlag Bruno Cassirer, 1929, Nr. 19
Literatur und Abbildung
Auktion: German and Austrian Art. London, Sotheby's, 2.7.1998, Nr. 14, m. Abb. / Auktion 71: Ausgewählte Werke. Berlin, Villa Grisebach Auktionen, 4.6.1999, Kat.-Nr. 53, m. Abb.
Wir wissen gut, wie George Grosz ausgesehen hat – und fast noch besser, wie er aussehen und gesehen werden wollte. Zahlreiche Fotos und Selbstbildnisse, bei denen sich Grosz geschickt in Szene setzte, zeugen von seinem Selbst- und Sendungsbewusstsein. Sie zeigen einen unangepassten, kompromisslosen Künstler, der mit Röntgenblick die Fassaden von Gesellschaft, Politik und Kultur durchleuchtete und dann mit dem Pinsel und chirurgischer Präzision sezierte. Doch der oppositionelle Blick mit erhobenen Brauen hatte ein interessantes Gegengewicht. Modisch war Grosz nämlich nicht nur auf der Höhe seiner Zeit, sondern auch auf der Höhe von Adel und Bürgertum, die er ansonsten so genussvoll und ausdauernd anprangerte. Grosz war ein Dandy, ein modischer Parvenu, gestriegelte Pomadenfrisur inklusive. So wie er in Kunst und Politik die Unterscheidung suchte, so suchte er modisch den Anschluss an die höheren Schichten.
Grosz sah dabei oftmals ziemlich genauso aus, wie der elegante Herr, der von rechts in das Bild hineinschlendert. Ein seidenes Tuch mit Paisley-Muster ist um den Hals geschlungen, das Mantelrevers modisch aufgestellt, die musterreichen Budapester Schuhe sind frisch poliert. Auch auf die Kleidung der anderen Protagonisten hat der Künstler ein besonderes Augenmerk gelegt – ganz im Gegensatz zur Umgebung, die schwungvoll und abstrakt in starken Farben umrissen ist. Wie so oft in seinem Werk wird Mode zum gesellschaftlichen Distinktionsmerkmal. Und kaum einer konnte mit den Mitteln des Aquarells modische Finessen und Texturen so wunderbar herausarbeiten, wie George Grosz es tat. Es empfiehlt sich ein zweiter Blick auf die satt glänzenden Lederhandschuhe des Herrn im Hintergrund, der Frau und Zeitung spazieren führt, oder auf die Hose des Herrn im Vordergrund, bei der selbst das filigrane Fischgrätmuster hier und da lustvoll ausformuliert ist.
Ob es nun der Künstler selbst ist oder nicht, der uns herausgeputzt entgegentritt: Gut gelaunt adressiert der Herr den Betrachter. Geradezu schelmisch scheint er uns zur Komplizenschaft einzuladen, die Umgebung im Blick zu behalten, insbesondere jene vermeintlich bessere Gesellschaft, die hinter ihm in Form verzerrter Stellvertreter ins Bild gesetzt ist. Und auch das Mittel der Wahl zur Beobachtung wird uns an die Hand gegeben: das Flanieren, das spätestens durch Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ (1929) zur Kunst- und Lebensform erhoben und retrospektiv als das Zeitphänomen schlechthin von Walter Benjamin erkannt worden ist. Inzwischen ist uns der Flaneur zu einem Sinnbild der Weimarer Zeit geworden, als Stellvertreter einer Gesellschaft, die vielmehr beobachtete und abwartete, als entschieden zu handeln. Dr. Pay Matthis Karstens
Aquarell mit Deckweiß, Rohrfeder und Feder in Schwarz auf Papier. 59,9 × 45,8 cm
(23 ⅝ × 18 in.). Links und rechts unten jeweils mit Bleistift signiert: GROSZ. In der Ecke unten links bezeichnet und betitelt: No 27 Strasse. Rückseitig in der Ecke unten links der Stempel: George Grosz Nachlass (handschriftlicher Zusatz: 1 46 8). Mit einer Bestätigung von Ralph Jentsch vom 5. März 2025. Das Aquarell wird aufgenommen in das Werkverzeichnis der Arbeiten auf Papier von George Grosz, herausgegeben von Ralph Jentsch, Berlin/Rom. Kleine Randmängel. [3028] Gerahmt
Provenienz
Nachlass George Grosz (1959) / Eugene V. Thaw, New York / Peter Deitsch Gallery, New York / Privatsammlung, New York / Privatsammlung, Berlin (1999 bei Grisebach, Berlin, erworben)
George Grosz, Zeichnungen und Aquarelle. Berlin, Verlag Bruno Cassirer, 1929, Nr. 19
Literatur und Abbildung
Auktion: German and Austrian Art. London, Sotheby's, 2.7.1998, Nr. 14, m. Abb. / Auktion 71: Ausgewählte Werke. Berlin, Villa Grisebach Auktionen, 4.6.1999, Kat.-Nr. 53, m. Abb.
Wir wissen gut, wie George Grosz ausgesehen hat – und fast noch besser, wie er aussehen und gesehen werden wollte. Zahlreiche Fotos und Selbstbildnisse, bei denen sich Grosz geschickt in Szene setzte, zeugen von seinem Selbst- und Sendungsbewusstsein. Sie zeigen einen unangepassten, kompromisslosen Künstler, der mit Röntgenblick die Fassaden von Gesellschaft, Politik und Kultur durchleuchtete und dann mit dem Pinsel und chirurgischer Präzision sezierte. Doch der oppositionelle Blick mit erhobenen Brauen hatte ein interessantes Gegengewicht. Modisch war Grosz nämlich nicht nur auf der Höhe seiner Zeit, sondern auch auf der Höhe von Adel und Bürgertum, die er ansonsten so genussvoll und ausdauernd anprangerte. Grosz war ein Dandy, ein modischer Parvenu, gestriegelte Pomadenfrisur inklusive. So wie er in Kunst und Politik die Unterscheidung suchte, so suchte er modisch den Anschluss an die höheren Schichten.
Grosz sah dabei oftmals ziemlich genauso aus, wie der elegante Herr, der von rechts in das Bild hineinschlendert. Ein seidenes Tuch mit Paisley-Muster ist um den Hals geschlungen, das Mantelrevers modisch aufgestellt, die musterreichen Budapester Schuhe sind frisch poliert. Auch auf die Kleidung der anderen Protagonisten hat der Künstler ein besonderes Augenmerk gelegt – ganz im Gegensatz zur Umgebung, die schwungvoll und abstrakt in starken Farben umrissen ist. Wie so oft in seinem Werk wird Mode zum gesellschaftlichen Distinktionsmerkmal. Und kaum einer konnte mit den Mitteln des Aquarells modische Finessen und Texturen so wunderbar herausarbeiten, wie George Grosz es tat. Es empfiehlt sich ein zweiter Blick auf die satt glänzenden Lederhandschuhe des Herrn im Hintergrund, der Frau und Zeitung spazieren führt, oder auf die Hose des Herrn im Vordergrund, bei der selbst das filigrane Fischgrätmuster hier und da lustvoll ausformuliert ist.
Ob es nun der Künstler selbst ist oder nicht, der uns herausgeputzt entgegentritt: Gut gelaunt adressiert der Herr den Betrachter. Geradezu schelmisch scheint er uns zur Komplizenschaft einzuladen, die Umgebung im Blick zu behalten, insbesondere jene vermeintlich bessere Gesellschaft, die hinter ihm in Form verzerrter Stellvertreter ins Bild gesetzt ist. Und auch das Mittel der Wahl zur Beobachtung wird uns an die Hand gegeben: das Flanieren, das spätestens durch Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ (1929) zur Kunst- und Lebensform erhoben und retrospektiv als das Zeitphänomen schlechthin von Walter Benjamin erkannt worden ist. Inzwischen ist uns der Flaneur zu einem Sinnbild der Weimarer Zeit geworden, als Stellvertreter einer Gesellschaft, die vielmehr beobachtete und abwartete, als entschieden zu handeln. Dr. Pay Matthis Karstens