Lupe

Das ist höchste Porträtkunst, so nah am Menschen war seit Holbein kein deutscher Maler. Eigentlich haben wir nur einen alten Mann mit Bart vor uns, einen längst vergessenen „Appellationsrat“, aber dank Leibls Genialität wird daraus etwas ganz anderes: pure Malerei und ein Augenpaar, das man nicht mehr vergisst.

 

Wie Wilhelm Leibl eine Gesichtslandschaft entwirft aus dem brodelnden Gegensatz von Haut und Haar

 

Der „Appelationsrat Stenglein“ ist längst vergessen, selbst mit den Mitteln der modernen Internet-Suchmaschinen lassen sich keine Spuren zu ihm finden – und doch wird er die Zeiten überdauern, denn der grosse Wilhelm Leibl hat ihn im Jahre 1871 gemalt. Und dieses Bildnis erzählt bis heute vor allem von der technischen Meisterschaft des Künstlers, seinem psychologischen Blick, seiner meisterhaften Farbbehandlung. Und er hat jenem Appelationsrat zwei Augen gemalt, die einen so eindringlich und durchdringend anschauen, dass man sie nie wieder vergisst.

 

„Leibl ist kein Landschafts- sondern in erster Linie ein Menschenmaler gewesen“, so schreibt Hermann Beenken, „doch Natur ist für ihn ein Mosaik farbig stofflicher Werte“. In unserem Bildnis ist es vor allem der Gegensatz zwischen den Hautpartien, die Leibl aus einer Hundertschaft von feinen Fleischton-Nuancen entwickelt, und den Haarpartien am Kinn und am Kopf. Die Flächigkeit gegen das fein gekräuselte, das Farbige gegen ein schillerndes Meer aus Grau. Darum geht es ihm in diesem Bild – darum auch ist der Hintergrund so schwarz wie der Frack des Justizbeamten. Sie sind nur die Folie, vor der Leibl das Gesicht zu einem Erprobungsfeld seiner virtuosen Darstellung von Stofflichkeit macht. Im Zentrum das dunkle Rot der Lippen.

 

Das Bildnis gehört zu den Auftragsporträts, die Leibl 1871 nach seiner Rückkehr aus Paris schuf, wo er entscheidende künstlerische Impulse für sein weiteres Schaffen empfangen hatte. Es steht in einer Reihe mit dem Bildnis des Möbelfabrikanten Pallenberg in Köln und dem des Bürgermeisters Klein in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Während dieses zweiten Münchner Aufenthaltes entstehen wenige Bilder, nur 27 sind verzeichnet zwischen 1871 und 1873, und zwar fast ausschliesslich Porträts. Es war eine besonders grüblerische Zeit für den ohnehin vergrübelten Leibl. Im Oktober 1870 war sein Vater gestorben, was den 27-jährigen stark bedrückte. Und doch entwickeln die Porträts jener Zeit eine ganz besondere Suggestionskraft, weil sich Leibls Malstil lockert und die Menschen lebendiger werden, die französische Kunst, die er in Paris gesehen hatte, brodelte nun auch unter den Oberflächen seiner Leinwände. Wenn auch natürlich, wie immer bei Leibl, ganz subtil. Und doch ist der Parisaufenthalt sicherlich zwingend notwendig gewesen, damit Leibl diese ungeheure malerische Souveränität erlangen konnte, die aus dem Bildnis des „Appellationsrates Stenglein“ spricht.

 

Es sind eigentlich weniger diese grossbürgerlichen Porträts, für die Leibl berühmt wurde, als vielmehr seine Hinwendungen an die oberbayrische Landbevölkerung, an die Haushaltshilfen und die Jäger und die Frauen in der Kirche, die er fünfzehn, zwanzig Jahre später in Bildnissen von grösster Härte und sprödem Realismus erfasste. Seit Holbein hatte eigentlich kein deutscher Maler mehr so sehr Gesichter als Dokumente der Menschheitsgeschichte erfasst, unbarmherzig und zugewandt zugleich. Doch in den Spitzenbildern der frühen 1870er Jahre, wie in diesem Bildnis, ist die ganze malerische Meisterschaft Leibls bereits enthalten.

 

Es hat sich eine Variante/Studie zum Porträt aus der Sammlung Mosse erhalten, die heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin verwahrt wird (Inv Nr. NG 818), die demonstriert, dass Leibl den Dargestellten in mehreren unterschiedlichen Perspektiven festgehalten hat. Die frontale Darstellung der Studie schien Leibl offenbar zu konfrontativ für die endgültige Umsetzung. Unser Bild, das eine geschlossenere Malstruktur als das Bild in der Nationalgalerie zeigt, dürfte direkt im Anschluss entstanden sein, wie es auch der Werkverzeichnisautor Emil Waldmann in der zweiten Auflage korrigierte. Der Appellationsrat Stenglein ist im Dreiviertelporträt nach links blickend dargestellt. Es wurde vermutet, dass die veränderte Position des Gesichts auf einen Einspruch des Dargestellten zurückzuführen sei. Doch da sich dieselbe Verfahrensweise auch für die beiden Portraits der Gräfin Treuberg nachweisen lässt, könnte es auch einen Einblick in die künstlerische Praxis von Leibl gewähren, der offenbar die direkte Frontalperspektive in der Darstellung brauchte, um zu einer für ihn schlüssigen Komposition zu kommen.

 

Das Foto vom 30. April 1932 aus dem Mosse-Palais ist eines der ganz raren Fotografien, die der Nachwelt einen Eindruck vermitteln von der Hängung in der Sammlung des legendären Rudolf Mosse. Bei einem Empfang von Mosses „Berliner Tagblatt“ zur Welthandels- Woche stehen Geheimrat Heck und Berthold Israel vor Leibls Gemälde „Bildnis des Appellationsrats Stenglein“. Es ist heute unvorstellbar, dass nur zwei Jahre später, also kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die gesamte Sammlung Mosses in Berlin zwangsversteigert wird – darunter dieses Bild Leibls. Brutaler kann man kaum zeigen, in welcher Geschwindigkeit das jüdische Fundament der deutschen Kultur zu zerstören versucht wurde. Bereits 1933 emigrierten Hans Lachmann-Mosse und Felicia.

 

Wir zeigen die Abbildung aus dem Versteigerungskatalog von Rudolf Lepke von der Auktion am 24. Mai 1934, bei dem der Leibl die „Tafel 1“ darstellt – er war nach dem Kunstverständnis der frühen dreissiger Jahre das bedeutendste Gemälde von Mosses Sammlung, und die 10.000 Mark, die es erlöste, spiegeln diese Werteinschätzung wider. Es hat fast hundert Jahre gedauert, bis Wilhelm Leibl endlich in den Augen der Kenner wieder denselben Grad an Bedeutung erlangt hat, den ihm Rudolf Mosse einst zugemessen hat.    

 

Florian Illies

 

zurück