Lupe

Per Kirkeby

Highlight Auktion Zeitgenössische Kunst

Los 731: Per Kirkeby. Ohne Titel. 2006. Schätzpreis: EUR 300.000–400.000

 

Kirkebys Blick auf eine unbekannte und rätselhafte Welt 

Per Kirkeby hat zahlreiche Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks – Architektur, Zeichnung, Collage, Bildromane und Fotobücher – bearbeitet, doch die Malerei stand immer im Zentrum seines eindrucksvollen Schaffens. Der 2018 verstorbene Däne, mehrfacher documenta-Teilnehmer und präsent in allen internationalen Museen, eroberte in den frühen 1980er-Jahren die internationale Bühne, nicht zuletzt auch in Auseinandersetzung mit der damals neuen deutschen Malerei eines Lüpertz, Baselitz und von anderen.

Kirkeby war ein forschender und zugleich verführender Maler, der zwar „mit seinem Instinkt malt“, aber selbst „vom Malprozess und von seinen Händen, vom Pinsel und alldem“ verführt wurde. Von dieser malerischen Verlockung berichtet unser unbetiteltes Hauptwerk aus der späten Schaffensphase des Künstlers. Das imposante Querformat ist komponiert in horizontalen Bändern, wobei die oberste Schicht, Gräser und Wolken darstellend, einen Horizont suggeriert. Die weiteren Bänder, scheinbar geologische Schichtungen, sind vorwiegend in sommerlichem Grün, Türkis und erdigen Grautönen gehalten. Nur in der unteren Hälfte scheinen warme, orange Streifen und intensive Blautöne durch diesen Farbteppich hindurch. Der Kunsthistoriker Sigfried Gohr hat die Werke des Jahres 2006 besonders hervorgehoben, denn diese „erreichen eine koloristische Dichte wie selten zuvor und behalten trotz aller Assoziationsmöglichkeiten eine distanzierende abstrakte Qualität“. Unser Bild aus genau diesem Jahr beeindruckt jedoch nicht nur mit seiner intensiven Farbigkeit. Kirkeby hat seine Komposition in einem zweiten Schritt mit einem Vorhang aus markanten Schraffuren zusätzlich akzentuiert. Diese unsteten, schwarzen Linien im unteren Teil changieren zwischen netzartigen Ornamenten und nicht leicht zu identifizierender Figuration. Wir meinen einen kippenden Baumstamm, Geäst, eine Figur, ein Schlüsselloch und darin das Profil eines Kopfes zu erkennen. Unser Blick gleitet zwischen den farbigen Tiefen des Bildraumes und den darüber liegenden Strichstrukturen hin und her. Diese Ebenen vermischen sich jedoch nicht miteinander, sondern bestehen gleichzeitig, übereinander, wie eine Melodie, die vor einem farbigen Akkord erklingt. Kirkeby hat das Prinzip der Collage hier nicht als ein Nebeneinander, sondern als Überlagerung realisiert. Immer wieder finden sich Höhlen und Löcher in seinen Werken, denn der Künstler war fasziniert von der Vorstellung, dass ein Gemälde den Blick auf eine unbekannte und rätselhafte Welt im Schoß der Erde freigeben könnte. So verbindet er Naturbeobachtungen mit ornamentaler Stilisierung und ermöglicht dem Betrachter – wenn die ersten landschaftlichen Assoziationen verschwunden sind – ganz individuelle optische Erfahrungen. Dann sind diese Werke nicht nur Ausdruck einer Synthese von Natur und Kultur, sondern regen uns zum Nachdenken an über Phänomene des Sichtbaren und die Möglichkeiten der Wahrnehmung. „Ohne Titel“ (2006) ist zweifellos ein betörendes Beispiel für Kirkebys Geologie unseres Sehens, nicht umsonst war dieses Werk Bestandteil der groß angelegten Retrospektive zum 70. Geburtstags des Künstlers im Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebaek.     Christian Ganzenberg